Vogel des Jahres 2022: Upupa epops

Herzlichen Glückwunsch an jeden Wiedehopf da draußen. Nach 1976 seid ihr im Jahr 2022 endlich wieder "Vogel des Jahres" und damit Gäste in unserem Vogelschutzgebiet.

Folgt man den Metamorphosen des Ovid, und das tun wir für gewöhnlich, holt man sich unter Umständen auch die ganze vertrackte Vorgeschichte dieses Vögelchens ins Haus. Aber wir vertrauen auf die Macht der Verwandlung und bleiben zuversichtlich. Nicht zuletzt, weil Johann Andreas Naumann in seiner Naturgeschichte der Vögel Mitteleuropas festgehalten hat: "Der Wiedehopf wird uns auf keine Weise nachteilig." Ach!

 

Was war passiert?

Tereus, König der Thraker, eilte einst dem Herrscher Athens, Pandion, gegen die anstürmenden Thebaner zu Hilfe. Gemeinsam gewannen sie die Schlacht und Tereus erhielt zum Dank die schöne Tochter des Pandion, Procne, zur Gemahlin. Itys wurde ihr Sohn. Und als Tereus, unersättlicher Kriegsherr, sein Auge auch auf Philomela geworfen hatte, der Schwester der Procne, nahm das ganze Unheil seinen Lauf. Er lockte Philomela unter falschem Vorwand in einen Wald, schändete sie, schnitt ihr die Zunge ab und sperrte sie in einen steinernen Stall. Doch Philomela war einfallsreich und schriftkundig: "Listig befestigte sie an barbarischem Webstuhl Kettfäden und wob zwischen das weiße Garn purpurne Schriftzeichen ein, die den Frevel anzeigten. Das fertige Werk übergab sie einer Magd." (VI, 575). Und die übergab es, als Ouvertüre zur totalen Eskalation, Procne.  "Zum Weinen fehlte die Zeit; Procne stürzt los, um Recht und Unrecht zu vermengen, und lebt ganz in dem Gedanken an Rache. (...) Bei Nacht hat die Königin ihren Palast verlassen; sie läßt sich in die Riten des Gottes einweihen und empfängt das Rüstzeug des dionysischen Wahnsinns: Weinlaub bedeckt ihr Haupt, zur Linken hängt ihr ein Hirschfell herab, auf der Schulter ein leichter Thyrsusstab. Rasend eilt sie durch die Wälder, vom Schwarm ihrer Gefährtinnen begleitet, Procne, die Entsetzliche!" (VI, 585-595) Aber Philomela, von Procne befreit, war nicht minder entsetzlich. Gemeinsam führten sie den Sohn und Neffen, Itys, auf die Schlachtbank: "die noch lebenden Glieder, in denen ein Rest der Seele zurückgeblieben ist, zerfleischten sie. Bald brodelt ein Teil davon in bauchigen Kesseln, einen anderen Teil braten sie am Spieß; die Hallen schwimmen im Blut. (VI, 644-646) Und dann kam, was kommen musste: "Zu solchen Tafelfreuden ruft die Gattin den ahnungslosen Tereus." (VI, 647)

 

Und Tereus?

"Tereus selbst sitzt hoch auf dem Thron seiner Ahnen, er ißt und begräbt sein eigen Fleisch und Blut in seinem Leibe. Und so tief ist sein Verstand umnachtet, daß er spricht: 'Ruft Itys hierher!' Da kann Procne ihre grausame Freude nicht länger verhehlen. Schon begehrt sie zur Botin ihres eigenen Unglücks zu werden und spricht: 'Drinnen bei dir ist der, nach dem du verlangst.' Er sieht sich um und fragt, wo der Knabe sei. Während er noch fragte und immer wieder rief, sprang Philomena hervor - ihr Haar war noch vom rasenden Morden mit Blut besprengt - und warf das blutige Haupt des Itys dem Vater ins Gesicht. Nie hatte sie sich sehnlicher gewünscht, sprechen zu können und ihre Freude in Worte zu fassen, wie er sie verdiente. Der Thracer brüllt auf wie ein Stier, stößt Tisch und Speisen von sich und beschwört die schlangenhaarigen Schwestern aus dem stygischen Tal. Bald lechzt er danach - o wenn er es doch könnte! -, sich die Brust zu öffnen und die gräßliche Speise, das darin versenkte Fleisch, herauszuholen, bald weint er und nennt sich das bejammernswerte Grab seines Sohnes. Jetzt aber verfolgt er Pandions Töchter mit gezücktem Schwert. Man hätte meinen können, die Cecropiden schwebten auf Flügeln - und in der Tat schwebten sie auf Flügeln. Eine von ihnen fliegt in den Wald, die andere schlüpft unter ein Dach. Von ihrer Brust sind immer noch nicht die Spuren des Mordes verschwunden: Der Flaum ist blutrot gezeichnet. Er aber, von Trauer und Rachedurst beflügelt, verwandelt sich in einen Vogel: Auf dem Scheitel trägt er einen Kamm, und anstelle der langen Schwertspitze ragt der Schnabel übermäßig weit vor; Wiedehopf heißt der Vogel, und sein Aussehen ist wehrhaft." (VI, 650-674)

Zitate: P. Ovidius Naso, Metamorphosen. Übersetzt und hrsg. v. Michael von Albrecht. Philipp Reclam jun., Stuttgart 2010

Zeichnung: Olivia W. Seiling

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